Goethe Institut Ballett der Dinge Joint Artists
Eine Betrachtung zur Finissage der Ausstellung "Trash-Art-Series" von Ricarda Peters im Goethe-Institut Frankfurt vom 20.01.- 08.04.2005

Von Ulrike Brandenburg


Es ist fast wie ein Ballett - Papierbahnen, die im Wind schwingen, sich ineinander verschränken oder ihre Verbindungen lösen. Tanzpantomimen eigener Art, ein Rhythmus der Dinge, von einer eigenen, reinen, abstrakten Ästhetik, filmisch und fotografisch dokumentiert von Ricarda Peters. Trash-Art-Series nennt sie das. In gleichsam ätherischem Gewand kommt daher, was eigentlich nichts ist als der Abfall unserer Zivilisationsgesellschaft, ein Ab-Fall auch vom Natürlichen, ökologisch Sinnvollen. Rest-Stoff, zusammengewickelt, zusammengerollt und gestapelt auf einer Deponie. Vor allem aber, in diesem Filmmaterial, Stoff der ästhetischen Wahrnehmung.

"Was meine Trash-Art-Series betrifft, so hat das nichts mit Gesellschaftskritik zu tun, noch mit Protest gegen Konsumverhalten", so die Künstlerin über ihre Arbeit. Und sie schreibt weiter: "Es spielt auf einer anderen Ebene, mehr in Richtung: ‚Und was die Welt im Innersten zusammenhält.' (Goethe, Faust I. Teil)." Das Wunder der ästhetischen Ordnung also, als Welten bauendes Prinzip.

Aber ist die ästhetische Ordnung auch Seinsprinzip? Und was hält die Welt eigentlich im Innersten zusammen? Die Ordnung? Die Unordnung? Das eine oder das andere, oder doch eher das eine und das andere? Und damit eine Kombination von ‚Chaos' und ‚Antichaos', die es etwa ermöglicht, dass sich Anmut und Schönheit am unscheinbaren Ort offenbaren?

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Was hält die Welt eigentlich im Innersten zusammen? Die Ordnung? Die Unordnung?

Goethe gibt in seinem dem Faust vorangestellten "Prolog im Himmel" eine Antwort, die sich für die Gleichzeitigkeit und Immanenz der Phänomene von Chaos und Ordnung auszusprechen scheint:

"Es wechselt Paradieseshelle / Mit tiefer, schauervoller Nacht. Es schäumt das Meer in breiten Flüssen/ Am tiefen Grund der Felsen auf,/ Und Fels und Meer wird fortgerissen/ Im ewig schnellen Sphärenlauf. […] Und Stürme brausen um die Wette/ Vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer, / und bilden wütend eine Kette / Der tiefsten Wirkung rings umher. / Da flammt ein blitzendes Verheeren / dem Pfade vor des Donnerschlags. / Doch deine Boten, Herr, verehren/ Das sanfte Wandeln deines Tags."

Destruktion als Teil des Schöpfungsprozesses, aber auch als Teil göttlicher Kontinuität: Ricarda Peters hat dieses Phänomen zum eigenen künstlerischen Bekenntnis erhoben.

Aus Absichtslosigkeit - Trash, aufeinander getürmt, kein Urstoff der Schöpfung, wohl aber der Zivilisationsgesellschaft - entfalte sich scheinbar Gewachsenes, scheinbar Natürliches.
"Strukturen, die sich teilen und unterteilen in immer noch kleinere Einheiten und offenbar der gleichen ‚Gesetzmäßigkeit' gehorchen. Ein Phänomen, das sich in der informellen Malerei wieder findet", formuliert Peters. Und spricht hier nicht nur als Fotografin und Filmemacherin, sondern als Malerin, die sie auch und vor allem ist, als Malerin, die sich eben jener Stilform des Informel verpflichtet hat.

Mit dieser Interpretation des Anti-Geometrischen in der Kunst, des gestischen Impetus flutender Farbwirbel, begibt sich die Künstlerin intuitiv in die Nähe zur Chaostheorie, jener nicht mehr ganz jungen, aber um so aktuelleren Wissenschaft, die Physiker, Mathematiker und andere Vertreter der Naturwissenschaften zum Umdenken gezwungen hat und weiter zwingt.

Von der Behauptung eines unmittelbaren Bezuges zwischen informeller Malerei, bzw. der im vorliegenden Fall ‚informellen Fotografie' und den komplexen naturwissenschaftlichen Erkenntniswelten der Chaostheorie sei in dieser Betrachtung freilich Abstand genommen - das Postulat eines direkten Entsprechungszusammenhanges wäre schlichtweg unhaltbar. Denn Künstler und Wissenschaftler sind bekanntlich Spezialisten ihrer jeweiligen Disziplin, auf deren Anforderungen sie professionell reagieren - konform mit den besonderen Bedingungen ihres Faches und Berufes. Es ist diese Haltung, die den Bildenden Künstler vor einem nur illustrativen Handeln bewahrt und den Wissenschaftler vor der Ungenauigkeit der Spekulation.

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"Es wird oft das Beispiel der Symmetrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts angeführt zwischen den Physikern, die die Relativitätstheorie entdeckten - und den Begriff der Zeit umstürzten - und dem Werk der Kubisten, die gleichzeitig die Darstellung des Raums revolutionierten. Die Künstler selbst bezogen sich jedoch in keiner Weise auf Einstein, sondern auf die afrikanische Kunst. In Wirklichkeit lebte man in einer Zeit, in der eine ganze Reihe von Strukturen und Repräsentationen ins Wanken gerieten. Die herkömmliche Vorstellung von Zeit und Raum wurde wegen einer historischen Umwälzung - der Globalisierung der Märkte, der Kolonialreiche, des weltumspannenden Güterverkehrs -, die die traditionellen, fest gefügten Vorstellungen erschütterte, in Frage gestellt. Diese allgemeine Erschütterung wirkte sich in allen Bereichen aus, sowohl in der Wissenschaft wie in der Kunst. Es ist sehr gut möglich, dass sich heute vergleichbare Prozesse abspielen." (Jean-Marc Lévy-Leblond, in: FTE info - Magazin über europäische Forschung, Sonderausgabe Kunst & Wissenschaft, März 2004, S. 4-7.)

Wissenschaft und Kunst kommen also nur auf Umwegen zu scheinbar vergleichbaren Ergebnissen. Dennoch können - nicht zuletzt vermittelt durch einen gemeinsamen mentalitätsgeschichtlichen Bezugsrahmen - Effekte des Ähnlichen entstehen, die eine nähere Betrachtung verdienen.

Als in den 40er Jahren in Paris das Informel erfunden wurde - von Künstlern, die sich als Aussteiger aus einer Welt festgelegter malerischer Gesetzmäßigkeiten, als Gegner also eines unter anderem von Kandinsky geprägten Formenkanons der geometrischen Abstraktion begriffen - waren die Voraussetzungen der so genannten Chaostheorie längst geschaffen. Als sich zwanzig Jahre später die Malerei des deutschen Informel im Zenit ihres öffentlichen Erfolges befand, entdeckte der amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz den seitdem viel zitierten und noch häufiger kolportierten so genannten Schmetterlingseffekt und machte damit die Fragen der so genannten Chaosforschung auch populär.

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Als die Malerei des deutschen Informel im Zenit ihres Erfolges stand, fand der amerikanische Meteorologe Lorenz den so genannten Schmetterlingseffekt.

Lorenz' Schmetterlingseffekt stellt die Frage nach der Ursache des Unerwarteten. Komplexe Systeme, die von Gesetzmäßigkeiten bestimmt sind, so die These des Wissenschaftlers, können unprognostizierbares Verhalten zeigen, wenn ihre Anfangsbedingungen geringfügig verändert werden. So sei es letztlich möglich, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings im Amazonas-Urwald einen Orkan in Europa auslöse.

Schon am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte der französische Physiker Henri Poincaré die potentielle Instabilität des Sonnensystems.

Schon im Jahr 1889 hatte sich der Mathematiker und Physiker Henri Poincaré (1854 bis 1912) einem noch viel beunruhigenderen Problem gestellt, nämlich demjenigen der Stabilität oder Nicht-Stabilität des Sonnensystems. Poincaré entdeckte, dass bei der konsequenten Anwendung des Newtonschen Kraftgesetzes auf mehr als zwei Planetenkörper nur noch Näherungswerte gefunden werden könnten. Das Verhalten eines Planetenpaares ist exakt berechenbar. Gerät dieses aber in das Anziehungsfeld eines dritten Körpers, können Abweichungen in dem Sinne entstehen, dass ein Planet zu torkeln beginnt, um schließlich seine Bahn und letztlich das Universum zu verlassen.

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Geschlossene Systeme können unvorhersagbare Entwicklungen nehmen. Chaotische Systeme können Ordnung herstellen.

Die periodische Aktivität von geschlossenen Systemen kann also durch einen so genannten Attraktor in ein radikal anderes Verhalten überführt werden.
Doch ist auch der umgekehrte Weg möglich. Aus der Vielfältigkeit eines komplexen chaotischen Systems können sich - im Übergang vom Chaos zum so genannten Anti-Chaos - einfache Strukturen herausbilden. Diese begegnen vor allem im Bereich der Biologie, also auf einem Gebiet, das von so genannten offenen Systemen bestimmt ist. Lebewesen kommunizieren mit ihrer Umwelt. Es entstehen so genannte dissipative Strukturen, das heißt solche, die nur durch Aufnahme und Abgabe von Energie weiter bestehen können - als dynamische Ordnungszustände.

Diese biologischen Ordnungszustände bilden keinen Widerspruch zu den aus der Thermodynamik hervorgegangenen und für die Chaostheorie konstitutiven so genannten entropischen Gesetzen, die die tendenziell chaotische Bewegung aller Systeme beschreiben. Denn auch wenn Lebewesen ordnungsschaffende und damit entropiemindernde Strukturen darstellen, so sind sie in ihrer Außenwirkung dennoch entropie-, und das heißt chaos-vermehrend.

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Die Chaostheorie bedeutet die Absage an ein statisches und damit reduktionistisches Weltbild.

Ordnung, im dynamischen Sinne verstanden, und Chaos erscheinen also als letztlich nicht trennbare und damit gegenseitig bedingte Phänomene. Demnach bedeutet die Chaostheorie vor allem eines: die Absage an einen statischen und deswegen reduktionistischen Wissenschaftsbegriff und den Abschied von einem nicht-komplexen, linearen und nicht-dynamischen Weltbild. Die Welt ist kein Perpetuum Mobile, kein selbstreferentielles Laufwerk. Der Versuch der gregorianischen Musiker des Mittelalters, die Zahlenharmonie der angenommenen Planetenordnung in den Tonskalen des Gesanges abzubilden, um Weltharmonie hörbar zu machen, ist - aus chaostheoretischer Sicht gesehen - ein Irrtum der Kulturgeschichte. So wunderbar können Irrtümer sein.

Die Schöpfungsmythen der Weltreligionen enthalten eine erste Ahnung von den Erkenntnissen der Chaostheorie.

Näher an der komplexen Wahrheit einer Alldynamik haben sich die Schöpfungsmythen der Weltkulturen angesiedelt. Diese Erkenntnis ist auch den Chaostheoretikern nicht verborgen geblieben. Die amerikanischen Wissenschaftler John Briggs und F. David Peat verweisen in der Einleitung zu ihrem Buch "Die Entdeckung des Chaos" (Frankfurt/Main 1991) auf die "chaostheoretischen" Grundlagen des Alten Testaments. Denn bereits hier ist die Ur-Spannung von Ordnung und Chaos - ohne deren Zusammenspiel das Sein nicht existieren würde - explizit benannt. Die Bibel beschreibt die Erschaffung der Welt als ordnenden Eingriff Gottes in das Urchaos. Allerdings ist der Sieg über das Chaos kein endgültiger. Das stete Wiederauftauchen Satans ist hier nur ein Beleg für die Präsenz des Ungeordneten.

Es ist fast wie ein Ballett - Papierbahnen, die im Wind schwingen, sich ineinander verschränken oder ihre Verbindungen lösen. Es sind Tanzpantomimen eigener Art, ein Rhythmus der Dinge, von einer eigenen, reinen, abstrakten Ästhetik. Freilich handelt es sich um Artefakte, den Urstoff der Zivilisation. Geordnet wurden sie, gebunden und übereinander gestapelt. Überließe man sie sich selbst, die weißen Zellstofftürme würden, langsam zerfallend, eine eigene, neue, nun ganz dynamische Ästhetik entfalten. Der Physiker würde diesen Prozess schlicht als Entwicklung von einem unter Aufbietung von Energie hergestellten hoch geordneten, entropiearmen Zustand zu einem ungeordneten, entropiereichen, also chaotischen Zustand beschreiben. Der Künstler erkennt in allen diesen Zuständen ihren ästhetischen Reiz und ihre ästhetische Ordnung.

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Künstler schaffen eigene Schöpfungsmythen.

In ihrem schöpferischen Status vermögen Künstler die Entropie der Welt in eine ästhetische Ordnung zu verwandeln. Sie schaffen eigene Schöpfungsmythen. Aus "Trash" wird "Art". Dieser Transformationsprozess aber setzt eine Erkenntnis frei, die den Ergebnissen der Chaostheorie durchaus vergleichbar ist. Denn was ist es, das die informelle Kunst abbildet? Ist es nicht so, dass sie in ihrer Bevorzugung des Gestischen, Spontanen und Flüchtigen genau jene ‚chaotische' Dynamik wiedergibt, ohne die Seinsprozesse und damit das Sein an und für sich gar nicht erst möglich wären? Im Zeitalter einer statischen Weltsicht spiegelte sich der Glaube an eine allgemeingültige mathematische Harmonie auch in der Bildenden Kunst. Berühmtestes Beispiel dieser Kunstauffassung des geometrischen Bildaufbaus ist Raffaels "Schule von Athen" (1512, Fresko, Stanza della Segnatura, Rom). Als am Ende des 19. Jahrhunderts der Glaube an eine unbedingt harmonische Weltordnung immer widerlegbarer wurde, fand auch die Malerei neue Wege. "Informel" und "Chaostheorie" entstehen im 20. Jahrhundert fast zeitparallel. Und dass die Chaosforschung aktueller ist denn je, zeigen nicht zuletzt - Werke informeller Künstler. Und ganz besonders das Ballett der Dinge, das Ricarda Peters in ihren "Trash-Art-Series" vorführt.

Die Künstlerin: Ricarda Peters, Malerin und Restauratorin. Ausbildung unter anderem bei Emilio Vedova, Venedig.
Die Autorin: Dr. Ulrike Brandenburg, Journalistin.